M. Cerutti u.a. (Hrsg.): Penser l’archive

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Titel
Penser l’archive – Histoires d’archives – archives d’histoire.


Herausgeber
Cerutti, Mauro; Jean-François Fayet, Michel Porret
Erschienen
Lausanne 2006: Editions Antipodes
Anzahl Seiten
331 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Benedikt Hauser

Der hier zu besprechende Sammelband enthält 24 Beiträge von Historikerinnen und Historikern zur Frage der Rolle von Archiven für die Gesellschaft und die Geschichte. Behandelt wird die Thematik anhand von Beispielen der historischen Forschung innerhalb eines sehr breit angelegten Spektrums: So untersucht die erste Abhandlung Archivierungspraktiken von Genfer Institutionen im 16. Jahrhundert, während die letzte den «archives ecclésiastiques» der heutigen Erzdiözese Kinshasa im 19. und 20. Jahrhundert gewidmet ist.

Vieles liest sich mit Gewinn wie beispielsweise Damien Carrons Analyse von Prozessakten der Schweizer Militärjustiz über Fremdenlegionäre, welche vor ihrer Rückkehr in die Schweiz am Algerienkrieg teilgenommen hatten. Schon das Thema ist äusserst spannend. Öffentlich dokumentiert und unzensuriert gelangten hier Foltermethoden oder Gewaltexzesse wie die Erschiessung von Kindern durch Armeeangehörige an die Öffentlichkeit, und dies zu einer Zeit, in welcher das Thema vom offiziellen Frankreich verschwiegen und tabuisiert wurde. Es kam denn auch zu heftigen Attacken französischer Blätter gegen die Schweiz und zu Spannungen zwischen Bern und Paris, als 1959 Bundesrat Petitpierre in seiner Antwort auf einen parlamentarischen Vorstoss zu einem dieser Prozesse die gegen die Menschlichkeit verstossende Repression der französischen Armee mit deutlichen Worten verurteilte. Auch aus archivischer und quellenkritischer Sicht sind diese Dossiers interessant. Zum einen stellt man fest, dass sie der Forschung problemlos zugänglich sind, und zum andern gelingt es dem Autor, durch den Abgleich von Daten und Dokumenten zweier Prozesse zu zeigen, dass sich die Aussagen der jungen Männer vor Gericht nicht spontan ergeben hatten, sondern auf eine enge Zusammenarbeit mit Schweizer Kreisen zurückzuführen waren, die – vielleicht mit Rücksicht auf noch lebende Personen – nicht näher spezifiziert als «milieux anticolonialistes » bezeichnet werden (S. 313) und denen es wohl vor allem darum ging, die Öffentlichkeit in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Sehr lesenswert sind ebenfalls Pierre-Yves Donzés Ausführungen zur Archivierungspraxis des Lausanner Kantonsspitals von 1850 bis 1960. Auch die Dürftigkeit eines Archivs kann aussagekräftig sein: Enthalten die eigenen Akten des Spitals nur sehr spärliche Hinweise zu seiner Geschichte, so deshalb, weil die eigentliche Leitung der Institution seit 1900 durch die kantonale Direktion des Innern und die Chefärzte wahrgenommen wurde, die dank der Betreuung von wohlhabenden Patienten und durch Schenkungen u.a. durch Nestlé über nicht regulär verbuchte Mittel in beachtlicher Höhe verfügten, welche z.B. für die Verbesserung der Infrastruktur von Spezialabteilungen verwendet wurden. – Hervorzuheben ist sodann der Beitrag über die Bedeutung von Privatarchiven von Marc Perrenoud, der sehr zu Recht in Erinnerung ruft, dass der Zugang der Bergier-Kommission zu Bankarchiven es ermöglicht hat, erstmals auch Fakten von gesamtwirtschaftlicher Relevanz wie die durch Grossbanken verwalteten und nicht in der Bilanz erscheinenden Vermögen zu rekonstruieren; auch die Widerlegung der These, dass die rasche Expansion des Schweizer Finanzplatzes nach dem Zweiten Weltkrieg auf die nachrichtenlos gebliebenen Vermögenswerte zurückzuführen sei, hätte sich ohne Benützung dieser Archive nicht erbringen lassen.

Manches lässt indessen auch zu wünschen übrig. So hätte es dem Sammelband gut getan, wenn man vermehrt darauf geachtet hätte, Selbstverständliches und Unbedarftes wegzulassen. Dass ein Brevet als alleinige Quelle nicht genügt, um den Erfolg eines Produktes zu rekonstruieren, bräuchte man nicht mit langen Worten zu beschreiben (S. 160). Enthalten die Personaldossiers bei Roche in den meisten Fällen nur Angaben statistischer Natur, so zeigt sich darin wohl kaum ein Firmentabu (S. 174), sondern vielmehr das Bestreben, die Personaladministration zu standardisieren. Und wird in der Einführung gesagt, dass die Krise im Zusammenhang mit den nachrichtenlos gebliebenen Vermögen weniger durch das Verhalten der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges selbst als vielmehr auf die Verriegelung der Archive und dadurch auf ein verriegeltes kollektives Gedächtnis zurückzuführen sei, so blendet diese Erklärung andere wichtige Faktoren schlicht aus. Schade ist zudem, dass die in jüngster Zeit in deutschschweizerischen Fachzeitschriften geführten Debatten z.B. zur vorarchivischen Bewertung gar nicht erst zur Kenntnis genommen worden sind. Auch ein Hinweis auf das Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich, das Schweizerische Sozialarchiv oder das Schweizerische Wirtschaftsarchiv wäre durchaus angebracht gewesen, wobei nicht unerwähnt bleiben darf, dass zwei dieser Institutionen nach wie vor auf einen Auftritt in der zweiten Landessprache verzichten. Ein vermehrt über den Röstigraben hinweg geführter Archivdialog wäre durchaus zu begrüssen.

Zitierweise:
Benedikt Hauser: Rezension zu: Mauro Cerutti, Jean-François Fayet, Michel Porret (sous la dir. de): Penser l’archive – Histoires d’archives – archives d’histoire. Lausanne, Ed. Antipodes, 2006. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 4, 2006, S. 491-493.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 4, 2006, S. 491-493.

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